Der Weißwein-Blend, das Meer, der Himmel und ich – GANZ allein.

Eines meiner Lieblingsthemen ist „Grenzerfahrungen“. Darum geht es heute. So, ob ihr es glaubt oder nicht, ich hatte noch nie eine ganze Flasche (0,75 l) Wein alleine getrunken. Also sie bewusst nur für mich allein geöffnet und dann an einem Abend ausgetrunken. Klar trinke ich hin und wieder allein Wein: Den Rest aus einer angebrochenen Flasche oder ich öffne eine, um ein Glas zu probieren. Aber dem Abenteuer, ganz allein, ohne Gesellschaft eine Flasche zu öffnen und diese in ein, zwei Stunden zu leeren, hatte ich mich noch nicht gestellt.

Im September war es soweit. Ein befreundeter portugiesischer Winemaker aus dem Alentejo gab mir eine Flasche einen neuen Blends (Weißwein) mit, an dem er experimentiert hatte und der zu Weihnachten auf den Markt kommen soll. „Nimm den mal mit und lass uns mal telefonieren, wenn Du den probiert hast.“ Mit dem Gedanken, bewusst Neuland zu betreten (eine Flasche, nur in Gesellschaft meiner Person), ging ich an die Vorbereitung dieses besonderen Abends. Nichts wollte ich dem Zufall überlassen.

Da war der Teller schon leer.
  • Abendessen (auch allein): um 19 Uhr im Nova Caravela, Amêijoas à Bulhão Pato mit Toast aber ohne Wein, dann nach Hause.
  • Beginn, pünktlich: 20.00 Uhr, Start mit beginnendem Sonnenuntergang
  • Ort: Dachterrasse, 23 C°, Blick auf den Atlantik (bzw. Bucht von Sao Martinho do Porto)
  • Meer: bewegt, aber nicht wild
  • Himmel: wolkenfrei, leicht rot, fast windstill
  • Snack: Tremoços (Lupinen gekocht und salzig eingelegt), sehen aus wie gelbe Smarties sind aber vitaminreich, laktose-, gluten-, cholesterinfrei
  • Glas: Zalto, Universalglas (mundgeblasen, handgefertigt, spülmaschinenfest)
  • Weinkühler: Impruneta Terracotta
  • Musik (leise): Aline Rocha, „River“ über AirPods Pro (2. Generation), unaufgeregt, chillig
  • Handy: Flugmodus
  • Ablenkungen: keine, nix, die Flasche, das Meer, der Himmel und ich, allein
Strandpromenade Sao Martinho do Porto

Zuvor habe ich die vielen Abende Revue passieren lassen, in denen ich guten, spannenden Wein in Gesellschaft getrunken habe und über deren typischen Ablauf nachgedacht.

Wenn ich einen Abend mit einem Freund geteilt habe, erinnere ich mich später genau an den Ort, unsere Stimmung, Themen und oft auch die Inhalte des Gespräches, jedoch nur selten an den Wein (ja, den Namen des Weins, aber nicht viel mehr). Meine gesamte Aufmerksamkeit, Konzentration an so einem Abend geht an den Freund, was ihn privat und/oder beruflich bewegt, sein Charakter, seine Persönlichkeit, seine Reaktion, seine Situation; er ist der Hauptdarsteller, der Wein (oder auch das Essen) hat meist nur eine Nebenrolle, die lediglich temporär wichtig ist („wie findest Du den Wein?“).

Und wenn ich den Abend mit mehreren Freunden verbringe, hat der Wein erst recht keine Chance, relevant Aufmerksamkeit zu erhaschen. Selbst wenn wir über das Essen und die Getränke sprechen, verblasst die Erinnerung an Schaumwein, Vorspeise, Wein, Hauptspeise, Spirituose, Dessert schnell. Zurück bleibt der Gesamteindruck des Abends, seine spezielle Konstellation, Kurzweiligkeit, Harmonie, das Gefühl der Verbundenheit, Freundschaft, ein schönes Kleid, ein guter Witz, eine irre Geschichte. Der Wein? Puh, weiß nicht.

Heute habe ich einen Abend allein mit einem neuen Freund: der Weißwein-Blend. Ein erstes Date, an das ich mich mit vielen Details erinnere. Und ich lerne diesen neuen Freund kennen, seinen Charakter, seine Persönlichkeit, seine Reaktion, aber trotzdem ist er nicht der Hauptdarsteller, diese Rolle hat ein anderer.

Heute Abend bin ich selbst der Hauptdarsteller, und das macht es ganz besonders, ist es ein Abend, nein sogar ein Date mit mir selbst. Ein Abend mit Axel, seinen Gedanken, die im Hinterkopf herumschwirren aber bislang nicht die Chance auf ein Durchdringen hatten. Ein vertieftes Kennenlernen, dass auch nach vielen Jahren nicht langweilig ist, verstärkte Selbstbeobachtung, Mut, Heiterkeit, Emotionen, Zweifel, Selbstkritik, Nachdenken, Pläne, Entscheidungen – Achterbahn. Mit Momenten, in denen ich vom Alltag befreit bin, in denen sich die Welt und mein Geist öffnen, in denen ich mehr Möglichkeiten und weniger Hindernisse sehe. Qualitytime mit mir selbst.

Die Dose war dann auch irgendwann leer.

Noch ein Wort zum Wein. Er war Spitzenklasse. Frisch, rund, voller Aromen, harmonisch. Wenn dieser auf dem Markt ist, stelle ich ihn hier vor. Aber sicher wird er schnell ausverkauft sein.

Habt ihr schon mal bewusst einen Abend ganz ohne Ablenkung und Beschäftigung nur mit Euch selbst und einer schönen Flasche Wein verbracht? Lasst hören und schreibt es auf. << >>